Proseminar SoSe 2001: Ethischer Relativismus

Handout 10:

Zu Cook, Kap. 4 (S. 32-48)

Paradoxien des (metaethischen) Kulturrelativismus

 

I. Wiederholung: Deskriptiver, methaethischer und normativer Kulturrelativismus

 

Metaethischer Kulturrelativismus

(MR)     Es gibt keine universell gültigen Moralurteile. Jedes Moralurteil ist kulturrelativ in dem Sinn, daß es nur innerhalb einer bestimmten Kultur gültig ist (und nicht auf andere Kulturen anwendbar ist). Jedes Moralurteil muß daher eine relativierende Angabe enthalten, aus der hervorgeht, in welcher Kultur es gültig ist, z. B.: "Handlungen der Art x sind moralisch verboten in der Kultur y" oder "Mitgliedern der Kultur y ist es moralisch verboten, Handlungen der Art x auszuführen".

Die Aussagen in (MR) sind Aussagen über die Moral bzw. über Moralurteile, sind aber nicht selbst Moralurteile. Philosophische Theorien über die Moral (im Unterschied z. B. zu psychologischen oder soziologischen Theorien) bezeichnet man als methaethische Theorien. (MR) ist daher eine Formulierung des metaethischen Kulturrelativismus.[1]

Die Metaethik beschäftigt sich mit Fragen wie:

Sind moralische Äußerungen Aussagen, die wahr oder falsch sein können oder drücken sie nur unsere Gefühle und Einstellungen aus?

Was sind objektive Werte? Gibt es objektive Werte? (Wie) kann man sie erkennen (wenn es sie gibt)?

Was sind moralische Tatsachen? Gibt es moralische Tatsachen?

(Wie) lassen sich Moralurteile begründen?

Philosophische Theorien, die bestimmte Moralurteile zu begründen versuchen, bezeichnet man als moralische Theorien bzw. als normative ethische Theorien.

Die normative Ethik beschäftigt sich mit Fragen wie:

Welche Handlungsweisen sind moralisch geboten, verboten oder erlaubt? Ist Sterbehilfe, Abtreibung usw. moralisch erlaubt?

Worin besteht ein gutes Leben?

Eine normative ethische Theorie ist beispielsweise der Handlungsutilitarismus, demzufolge eine Handlung in einer bestimmten Situation nur dann moralisch richtig ist, wenn sie mindestens so viel Glück hervorbringt, wie jede der anderen in der Situation möglichen Handlungen.

Der metaethische Kulturrelativismus versucht nicht, bestimmte Moralurteile zu begründen; er macht keinerlei Aussagen darüber, welche Handlungen moralisch geboten oder verboten sind und ist daher keine moralische bzw. normative Theorie.

 

Metaethische Theorien können nicht mit moralischen Argumenten begründet oder widerlegt werden. Man kann daher den metaethischen Kulturrelativismus nicht begründen oder widerlegen, indem man zeigt, welche moralisch positiven oder negativen Konsequenzen er mit sich bringt.

Es ist daher verwirrend, daß viele Ethnologinnen und Ethnologen moralische Argumente für den metaethischen Kulturrelativismus anführten und argumentierten, daß er zu mehr Toleranz zwischen Kulturen führt und den Ethnozentrismus beseitigt.[2]

 

Cooks vollständiges Argument für den metaethischen Kulturrelativismus (S. 11 bzw. Handout 5, S. 2-4) enthält keine einzige moralische Prämisse (d. h. kein einziges Moralurteil), sondern besteht nur aus Aussagen über die Moral bzw. über Moralurteile, z. B. daß Moralurteile von Kultur zu Kultur variieren, daß moralische Überzeugungen durch Enkulturation erworben werden usw. Auch die Konklusion des vollständigen Arguments - es ist ein Fehler, die Moralprinzipien der eigenen Kultur auf andere Kulturen anzuwenden - ist kein Moralurteil. Die Konklusion besagt nicht, daß es ein moralischer Fehler ist, die eigenen Moralprinzipien auf andere Kulturen anzuwenden, sondern ein Denkfehler. Wer versucht, andere Kulturen moralisch zu beurteilen, hat nicht begriffen, daß dies unsinnig ist.

 

Der (metaethische) Kulturrelativismus darf nicht mit folgenden Behauptungen verwechselt werden und keine dieser Behauptungen liefert ein Argument für den Kulturrelativismus:

-  Methodological contextualism: Every custom, belief, or action must be studied in the context of the culture in which it occurs. That is, it must be studied in light of the history and traditions, problems and opportunities, and total body of customs of the relevant society. Otherwise, we will gain little insight into other cultures.

-  Methodological neutralism: To understand other cultures, social scientists must suppress their moral convictions when studying those cultures. Although they cannot entirely free themselves from such convictions, they should try to put the convictions aside in the interest of accurate research.

-  Descriptive relativism: Different cultures accept radically different ‘moralities’ or moral principles. For instance, the morality of the Yanomamö differs fundamentally from that of the Inuit, which in turn differs from that of the Dinka.

-  Situational relativism: Whether a deed is right or wrong depends on the situation in which it occurs. Thus, moral appraisals must be sensitive to circumstances. It goes without saying that some of these circumstances are tied to culture. For example, what counts as a joke in one cultural setting might count as an insult in another.

-  Praise/blame contextualism: Whether a person warrants praise or blame for a deed depends on a number of things that vary with time and place. These include the alternatives available to the person, and the demands of his or her community. Thus, what merits praise or blame in one society is unlikely to do so in all societies.

-  The principle of tolerance: Disrespect for other ways of life is neither morally nor rationally justified. We need more tolerance and understanding in the world.[3]

 

Deskriptiver Kulturrelativismus

(DR)      Es gibt eine große Diversität der Werte und moralischen Überzeugungen, die von Menschen in verschiedenen Kulturen verteten werden. Handlungen, die in einer Kultur moralisch verboten sind, sind in anderen Kulturen erlaubt oder geboten.

Der deskriptive Kulturrelativismus ist keine philosophische Theorie, sondern eine empirische (ethnologische) Theorie, die sich aus der Beobachtung verschiedener Kulturen ergibt. Sie sagt nur aus, daß tatsächlich in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Moralprinzipien akzeptiert werden, macht aber keine Aussagen darüber, ob es möglich ist, Moralurteile zu begründen, die in allen Kulturen gültig sind.

Aus dem deskriptiven Kulturrelativismus kann man nicht auf den metaethischen Kulturrelativismus schließen.

 

Normativer Kulturrelativismus

(NR)      Es ist moralisch falsch, das Verhalten und die Praktiken von Menschen und Kulturen mit anderen Moralvorstellungen moralisch zu beurteilen und sich in deren Angelegenheiten zu mischen.

(NR) ist ein Moralurteil und unterscheidet sich dadurch von (MR) und (DR). (NR) folgt weder aus dem metaethischen noch aus dem deskriptiven Kulturrelativismus.

Da (NR) außerdem als universell gültiges Prinzip formuliert ist (d. h. ohne eine relativierende Angabe, aus der hervorgeht, daß es nur in einer bestimmten Kultur gültig ist), ist es mit dem metaethischen Relativismus unvereinbar. Wer (MR) und (NR) vertritt, widerspricht sich selbst.

 

 

II. Paradoxien des metaethischen Kulturrelativismus

 

Aus dem metaethischen Kulturrelativismus ergeben sich folgende Konsequenzen:[4]

 

1a. Kulturen können voneinander in moralischer Hinsicht nichts lernen. (34)

1b. Die Praktiken und Moralprinzipien einer Kultur können nicht von außen (d. h. von einer anderen Kultur) moralisch kritisiert werden. (34)

=> Eine Kultur braucht einer von außen vorgebrachten "Kritik" an ihren Praktiken keinerlei Beachtung schenken, da diese "Kritik" nur auf dem Denkfehler des Ethnozentrismus beruht und in Wirklichkeit gar keine Kritik ist.

=>  Eine Kultur muß ihre Praktiken nicht gegenüber anderen Kulturen moralisch rechtfertigen (da dies gar nicht möglich ist).

=>  Die Möglichkeit einer interkulturellen moralischen Argumentation ist weitgehend ausgeschlossen.

 

4a. Es gibt keinen (moralischen) Grund, eine andere Kultur zur Änderung ihrer Praktiken und Moralprinzipien zu bewegen. (38ff.)

4b. Es gibt keinen (moralischen) Grund, Personen einer anderen Kultur zu helfen, deren Leib und Leben durch die Praktiken ihrer Kultur bedroht sind.

 

2.   Eine Person handelt moralisch richtig genau dann, wenn sie gemäß den in ihrer Kultur gültigen Moralprinzipien handelt. Jede Handlung, die diese Moralprinzipien verletzt ist moralisch falsch. (34f.)

 

5.   Die Praktiken und Moralprinzipien einer Kultur sind willkürlich und nicht begründbar, d. h. es ist gleichgültig, welche Praktiken und Moralprinzipien in einer Kultur gültig sind. (40ff.)

 

(6.  Wenn die Mitglieder einer Kultur wissen, daß ihre Moralprinzipien willkürlich sind, verlieren diese Prinzipien ihre Autorität. (40ff.))

 

3.   Die grundlegenden Praktiken und Moralprinzipien einer Kultur können nicht von innen (d. h. von Mitgliedern der Kultur) moralisch kritisiert werden. (36ff.)

=>  Man kann bestimmte Praktiken nur kritisieren, wenn sie mit den in der Kultur gültigen Moralprinzipien nicht vereinbar sind.

=>  Es kann keine moralischen Reformer geben. Personen, die die Praktiken und Moralprinzipien ihrer Kultur für moralisch falsch halten und sie durch andere ersetzen wollen, sind keine moralischen Reformer, sondern reden Unsinn und begehen einen groben Denkfehler.

=>  Moralischer Konservativismus; es gibt keinen moralischen Fortschritt.

 

7.   Der metaethische Kulturrelativismus ist unvereinbar mit unserer Praxis des moralischen Redens und Argumentierens.

7a. Wenn "unmoralisch" nichts anderes bedeutet als "gegen die hier und jetzt gepflegten Sitten", ist es begrifflich unmöglich, Handlungen, die mit den hier und jetzt gepflegten Sitten übereinstimmen, für unmoralisch erklären. (44)

7b. Man kann eine Handlung moralisch rechtfertigen durch den Hinweis, daß alle so handeln. (44ff.)

7c. Wenn der Relativismus die Moral mit Praktiken, Gewohnheiten, Sitten usw. identifiziert, ist es begrifflich unmöglich die Praktiken, Gewohnheiten und Sitten einer Kultur moralisch zu kritisieren. (46)

 

Insgesamt ergibt sich aus diesen Konsequenzen, daß der metaethische Kulturrelativisms keine adäquate Beschreibung unseres Verständnisses von Moral und moralischer Argumentation sowie unserer Verwendungsweise von Moralurteilen und moralischen Wörtern (wie z. B. "unmoralisch") ist. Er ist vielmehr eine revisionistische Theorie, die uns sagt, wie wir Moralurteile zu verstehen und korrekt zu verwenden haben.

Dabei ist insbesondere zu beachten, daß der metaethische Kulturrelativismus nicht nur Konsequenzen für unser Verhältnis zu anderen Kulturen hat, sondern auch für das Moralverständnis in unserer eigenen Kultur.

 

Selbst wenn man die Konsequenzen 1-7 für paradox hält, sind sie trotzdem keine Widerlegung des metaethischen Kulturrelativismus. Sie zeigen nur, daß man besonders gute Argumente für den Kulturrelativismus benötigt und sein Anspruch auf die beste Erklärung der Diversität moralischer Überzeugungen zweifelhaft ist.

 



[1]      (MR) ist eine philosophische Theorie, da sie Aussagen über die Gültigkeit von Moralurteilen macht. Sie ist keine empirische Theorie, die nur beschreibend feststellt, daß verschiedene Kulturen verschiedene Moralurteile akzeptieren.

[2]      Vgl. hierzu z. B. John J. Tilley (1999): Moral Arguments for Cultural Relativism, Netherlands Quarterly of Human Rights 17, S. 31-41.

[3]      Zitat 1-5 aus John J. Tilley (1998): Cultural Relativism, Universalism, and the Burden of Proof, Millennium 27, S. 275-97: S. 277. Zitat 6 aus John J. Tilley (1998): The Problem for Normative Cultural Relativism, Ratio Juris 11, S. 272-90: S. 287.

[4]      Ich habe Cooks Numerierung beibehalten, jedoch die Reihenfolge der einzelnen Konsequenzen geändert.



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